Ein Interview mit unserem interkulturellen Experten Gurdatar Singh Bal
Indien boomt! Das Land ist aktuell die fünftgrößte und wirtschaftsstärkste Volkswirtschaft der Welt. Interkultureller Experte Gurdatar Singh Bal von der ICUnet.Group bringt jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit der deutschen und indischen Kultur mit. Zahlreiche Geschäftsführer namhafter Unternehmen hat er in seiner bisherigen Laufbahn bereits erfolgreich beraten.
Gurdatar wurde 1967 in Butala, Indien, geboren. Nach seinem Bachelor- Abschluss in Politikwissenschaft und Wirtschaft an der Guru Nanak Dev Universität in Amritsar arbeitete er als Landmaschinenmechaniker. 1992 begann er ein duales Studium als Industriefachwirt am Bayerischen Fortbildungszentrum in Kempten. Er hat jahrelange Erfahrung als Verkaufssachbearbeiter, Geschäftsführer und Projektleiter in verschiedenen Industriebetrieben in Deutschland, Indien, Malaysia, Sri Lanka und Ungarn, wo er seine Fähigkeiten im Einkauf, Produktion, Controlling, HRManagement und der Projektleitung ausbaute. Seit 2007 ist er als interkultureller Seniorberater bei der ICUnet.Group tätig, spezialisiert auf Key Account Management, Projektmanagement, Recruiting in Asien und Teambuilding. Seine Expertise umfasst die Kommunikation und Führung in Südostasien, insbesondere in Indien, China, Malaysia und Singapur. Gurdatar Singh Bal spricht fließend Punjabi, Englisch, Hindi, Deutsch und Urdu. Er lebt jetzt in Passau. Seine Passion gilt weiterhin der Landwirtschaft in Indien.
Gurdatar gehört der Sikh-Religion an, einer vergleichsweise jungen Glaubensrichtung in Indien, die aus dem Hinduismus hervorgegangen ist. Die Sikhs glauben an die Gleichheit aller Menschen und an eine einzige Gottheit, die in den verschiedenen Religionen unterschiedlich benannt wird. Obwohl die Sikhs nur etwa 2 % der indischen Bevölkerung ausmachen, spielen sie eine bedeutende Rolle im Land. Sie sind für ihr starkes Durchsetzungsvermögen bekannt und stellen rund 30 % des indischen Militärs. Zudem sind Sikhs als hervorragende Landwirte geschätzt und tragen etwa 25 % zur Getreide- und Reisproduktion des Landes bei. Die größte Sikh-Gemeinde außerhalb Indiens befindet sich in Kanada.
Wir haben unseren interkulturellen Experten folgendes gefragt: Welche wertvollen Tipps kann die eine Kultur von der jeweils anderen übernehmen? Erfahren Sie im Interview, wie diese beiden Länder ihre Stärken miteinander teilen und voneinander profitieren können, um sowohl auf persönlicher, gesellschaftlicher sowie unternehmerischer Ebene zu wachsen:
Gurdatar, welcher interkulturelle Unterschied zwischen Indien und Deutschland prägt deren internationale Zusammenarbeit besonders? Erläutere uns dies gerne auch mit Blick auf die Zusammenarbeit im B2B-Bereich.
Gurdatar: Es besteht ein enormer Unterschied in der Risikobereitschaft beider Kulturen. Bei den Deutschen handelt es sich um eine risikovermeidende Kultur, die langfristig und nachhaltig denkt. Sie bewegt sich nur ungern aus dem Bereich ihrer Expertise heraus. Brauchen die Deutschen kurzfristige Lösungen, dann können Sie sich allerdings viel von den Indern abschauen! Es handelt sich bei ihnen um sehr kurzfristig und pragmatisch denkende Menschen. Diesen Lösungsansatz nennt man in Indien „Jugaad“. Schnelligkeit und Funktionalität sind ihnen wichtiger als ein Produkt, das viele Jahre halten muss. Sie trauen sich, sich aus ihrer Expertise herauszubewegen und einfach mal etwas komplett Neues auszuprobieren. Während deutsche Unternehmen also den sicheren Weg präferieren und dem Gebiet ihrer Expertise treu bleiben, findet man bei indischen Großkonzernen eher ein breites Themenfeld!
Welche Missverständnisse treten Deiner Erfahrung nach häufig zwischen beiden Kulturen auf?
Gurdatar: Zusätzlich zu der soeben beschriebenen unterschiedlich ausfallenden Risikobereitschaft führen zwei weitere Bereiche immer wieder zu Missverständnissen in deren Zusammenarbeit: die Rollenverteilung sowie das Zeitmanagement. Bei der indischen Kultur handelt es sich um eine starke rollenkonforme Gesellschaft, bei der deutschen hingegen um eine regelorientierte. In der beruflichen Zusammenarbeit äußert sich dies demnach in ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen. Indische Kolleginnen zeigen sich im Berufsleben eher verantwortungsscheu, da ihre Entscheidungsfreudigkeit gering ausgeprägt ist. Bereits in den Erziehungsmethoden mehr Entscheidungsfreiheit zu geben ist beispielsweise ein Aspekt, den sich die indische Kultur hier von der deutschen abschauen kann. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt, denn indische Talente werden aufgrund ihrer Rollenkonformität meist nicht entdeckt. Ein wegweisender Schritt wäre, dass indische Führungskräfte ihren Mitarbeitenden mehr Verantwortung übertragen. Auch das Thema Zeitmanagement kann in der Zusammenarbeit zu Missverständnissen führen. Inderinnen zeigen sich in ihrer Zeitplanung sehr flexibel, da sie oft denken, dass ihnen die 24 Stunden des Tages zur Verfügung stehen. Deutsche Arbeitskräfte hingegen sehen die ihnen verfügbare Zeit pro Tag aus einem realistischeren Blickwinkel. Dadurch sind sie strikter bei ihrer Zeitplanung. Was sich die deutsche Kultur hier von der indischen abschauen kann? Mehr Spontanität! Immerhin läuft im Leben nicht immer alles wie geplant.
Uns interessiert Deine Einschätzung: Wie siehst Du die zukünftige Entwicklung der deutsch-indischen Beziehungen im interkulturellen Kontext?
Gurdatar: Als Traumwelt, denn diese Gegensätze, die ich soeben beschrieben habe, können sich sehr gut durch die Stärken der jeweils anderen Kultur ausgleichen. Die Beziehungsorientierung der Inderinnen sowie die Sachorientierung der deutschen Kultur können sich im Geschäftsleben in deren Zusammenarbeit als sehr wertvoll erweisen. Dies macht die deutschen Kolleg**innen sehr stark im technischen Bereich und die indischen zu Verkaufstalenten. Beide Kulturen können hier sehr viel voneinander lernen.
Wir sind neugierig: Was war die größte Überraschung/Erkenntnis bei Deiner Arbeit mit beiden Kulturen als interkultureller Trainer?
Gurdatar: Der Optimismus der indischen Kultur! Wenn Deutsche z.B. 6 Monate für ein Projekt kalkulieren, dann sagen die indischen Kolleginnen vielleicht, dass sie es in 3 Monaten schaffen – und damit schießen sie meist an der Realität vorbei. Die Planung sowie die Umsetzung funktionieren bei ihnen anders als hier in Deutschland. Außerdem wirkt die immer sehr stark hinterfragende deutsche Kultur, gepaart mit ihrem häufigen Pessimismus, wie ein Hindernis für indische Kolleginnen.
Möchtest Du unseren Leser*innen abschließend noch etwas mit auf den Weg geben?
Gurdatar: Wenn Sie in ihrem Berufsleben mit der indischen Kultur zu tun haben, dann denken Sie daran: Das Geschäftsleben dort ist sehr stark von zwischenmenschlichen Beziehungen, der Rolle und der Kommunikation abhängig. Konkret bedeutet dies, dass Sie folgende Punkte immer im Hinterkopf behalten sollten, wenn sie (beruflich) mit Menschen aus Indien interagieren:
Es sollte stets eine gute zwischenmenschliche Beziehung zwischen zwei Personen bestehen.
Rollen sollten in Projekten sehr gut definiert sein. Dadurch wissen Sie, wo Sie (und andere) in der Hierarchie stehen und können einschätzen, wie Sie von außen wahrgenommen werden.
Was die Kommunikation anbelangt, muss man als Deutscher in der Lage sein, zwischen den Zeilen zu lesen. Kritik wird bei der indischen Kultur eher indirekt geäußert. Dadurch erkennen wir nicht immer, wenn die indischen Kolleginnen mal nicht mit etwas einverstanden sind.